Nicole Steidl
Marco Polos „Heydnische Chronik“: Die mitteldeutsche Bearbeitung
des „Divisament dou monde“ nach der Admonter Handschrift (Cod.
504). Ein verweigerter Kulturtransfer?

Mit Marco Polos „Divisament dou monde“ liegt die erste abendländische Schilderung einer Reise
durch das gesamte Asien vor. Der in der so genannten franko-italienischen
Sprache verfasste Reisebericht dokumentiert sehr ausführlich und lebhaft
die von Offenheit und Neugier getragene Begegnung eines Abendländers
mit der Welt des Orients. Demzufolge enthielt der „Divisament“
eine Fülle neuer Informationen über die geographische Ausdehung Asiens
und seiner Bevölkerungsteile und stellte dem lateinischen Westen somit
ein Wissen zur Verfügung, das in den traditionsreichen Erd- und Völkerkunden
des 13. Jahrhunderts noch nicht zu finden war. „Le divisament dou
monde“ stieß bereits kurz nach seinem Erscheinen um 1299 auf großes
Interesse, wurde durch Abschriften verbreitet und in mehrere europäische
Sprachen übertragen, was teils beträchtliche Eingriffe in den Text
implizierte. Auf diese Weise entstand gegen Mitte des 14. Jahrhunderts
über eine venezianische, toskanische und lateinische Bearbeitungsstufe
die mitteldeutsche Variante, wie sie einzig die Admonter Handschrift
504 überliefert. Das in den Bibliothekskatalogen als „Heydnische
Chronik“ verzeichnete Manuskript weicht in Umfang, Inhalt und seiner
Komposition deutlich vom „Divisament“ ab, sodass viele Textpassagen
fehlen bzw. nur noch bruchstückhaft vorhanden sind. Insbesondere die
narrative Komponente des Reiseberichts wurde deutlich reduziert und
die neuen ethnographischen Aussagen weitest gehend an die Vorgaben
der traditionellen Wissensliteratur des gelehrten Mittelalters angepasst.
Ziel dieser Arbeit ist es, ausgehend von der franko-italienischen
„Divisament“-Fassung und mit Hilfe der vergleichenden Textanalyse
die Bearbeitungsmuster des mitteldeutschen Marco Polo unter Berücksichtigung
seiner vorangegangenen Textstufen zu beschreiben und auf dieser Grundlage
eine Verständnisperspektive für die Entwicklung und Lesart der „Heydnischen
Chronik“ zu entwerfen. Die Untersuchung konzentriert sich dabei
in erster Linie auf die Veränderung und Adaptation der Wissensinhalte
im jeweiligen Aufnahmekontext und rückt den kulturellen Transferprozess,
der bei der Übertragung eines Textes in eine andere Sprache stattfindet,
in den Vordergrund. Die dem Analyseverfahren zugrunde liegenden Leitfragen
lauten dabei: Welche inhaltlichen Übernahmen bzw. Reduktionen charakterisieren
die Textentwicklung? Welche Funktionen erfüllen diese Eingriffe in
Bezug auf die Textstruktur und das Publikum der mitteldeutschen Fassung?
Welcher Adressatenkreis könnte an einer solchen deutschen Marco Polo-Variante
überhaupt Interesse gehabt haben? Anhand der Ergebnisse soll abschließend
diskutiert werden, inwieweit und weshalb die von Marco Polo angeregte
Transformation des Orientbilds, wie es die traditionelle Schulliteratur
des gelehrten Abendlands seit der Spätantike überlieferte, ‚verweigert‘
wurde.
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