Graduiertenkolleg 516
Kulturtransfer im europäischen Mittelalter

Lena Rohrbach

Der tierische Blick – Literarisch-anthropologische Analysen von Mensch-Tier-Relationen in der Sagaliteratur

Lena Rohrbach Obwohl sich in allen Gattungen der altwestnordischen Sagaliteratur des 12. bis 14. Jahrhunderts eine Fülle von Tierbeschreibungen ebenso wie Tiervergleichen findet, gibt es bis heute keine systematische literaturwissenschaftliche Untersuchung dieser Episoden. In diesem Dissertationsprojekt wird erstmals das Korpus der Isländersagas, zeitgenössischen Sagas (Bischofsagas und Sturlunga saga) und Königssagas vollständig aus der Perspektive dieser Tierdarstellungen heraus betrachtet. Mit diesem Ansatz wird eine völlig neue Annäherungsmöglichkeit an die in der Forschung oft als anthropozentrisch bezeichneten Texte eröffnet, um eben jenes Postulat zu hinterfragen. Zentrales Anliegen dieses Projektes ist es darzulegen, auf welche Art und Weise Tiere in den Sagaerzählungen zur Konstituierung von Bedeutung herangezogen werden und welche Aussagen daraus über die den Texten zugrundeliegenden Gesellschaftsbilder, insbesondere das Selbstverständnis des Menschen und dessen Verhältnis zur Tierwelt getroffen werden können.

Eine Annäherung an diese Thematik wird in zwei Schritten vorgenommen, da im Rahmen dieser Arbeit davon ausgegangen wird, dass Aussagen über die sich in literarischen Texten widerspiegelnden anthropologischen Prämissen eine vorherige Analyse der literarischen Funktion der betreffenden Elemente bedingen. Daher werden die Tierepisoden zunächst daraufhin untersucht, wie sie in den einzelnen Untergattungen der Sagaliteratur in den Gesamttext integriert werden und welche narrative Funktion ihnen dabei für den Handlungsverlauf zukommt.

Die dabei feststellbaren strukturellen Divergenzen lassen sich mit einer grundlegend verschiedenartigen Zuordnung des Tieres zur menschlichen Lebenswelt in den einzelnen Textgruppen in Zusammenhang bringen. Während in der monarchischen Figurenwelt der Königssagas Tiere primär in metaphorischer und symbolischer Funktion Eingang finden, weisen die drei anderen Untergattungen, in denen in verschiedenen Kontexten das Bild einer wenig stratifizierten isländischen Gesellschaft konstruiert wird, eine Omnipräsenz des Tieres im Alltag auf, die auf verschiedene Weisen zur Thematisierung zentraler anthropologischer Aspekte herangezogen wird. Vor allem die in verschiedenen Kontexten eingenommene Nähe bzw. Distanz zu Tieren wirkt sich in einem komplexen Spannungsverhältnis, dem beispielsweise im Falle der Pferdekämpfe oder bei der Ausübung von Gewalt gegenüber Tieren metonymische Dimension zukommen kann, auf den gesellschaftlichen Status der Sagafiguren aus.

In einem dritten Hauptteil der Arbeit werden die Ergebnisse der literarisch-anthropologischen Analysen aufgegriffen und systematisch daraufhin untersucht, in welchen Bereichen und zu welchem Zweck eine Adaption und Transformation von einzelnen Tiermotiven, Strukturmodellen und generellen Haltungen zu Tieren aus Kontinentaleuropa in das christianisierte Skandinavien stattgefunden hat. Ein kultureller Transfer literarischer Muster ist hauptsächlich in den Königssagas und den hagiographisch ausgerichteten Bischofssagas festzustellen. In den anderen beiden Gattungen, den Isländersagas und der Sturlunga saga, sind dagegen bei der Darstellung von Tieren nur sehr vereinzelt Einflüsse kontinentaleuropäischer Traditionen aufzuspüren; die spezifische Bedeutungskonstituierung durch Tierepisoden in diesem Teil der Sagaliteratur ist als eigenständige Entwicklung einzuordnen, die in ihrer Einbettung in eine einerseits sich im Prozess der Stratifikation befindlichen und andererseits aufgrund der klimatisch-geographischen Gegebenheiten vollständig von der Viehhaltung abhängigen Gesellschaft interpretiert werden muss.

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