Lena Rohrbach
Der tierische Blick – Literarisch-anthropologische Analysen von Mensch-Tier-Relationen in der Sagaliteratur

Obwohl sich in allen Gattungen der altwestnordischen Sagaliteratur des 12. bis 14. Jahrhunderts
eine Fülle von Tierbeschreibungen ebenso wie Tiervergleichen findet,
gibt es bis heute keine systematische literaturwissenschaftliche Untersuchung
dieser Episoden. In diesem Dissertationsprojekt wird erstmals das
Korpus der Isländersagas, zeitgenössischen Sagas (Bischofsagas und
Sturlunga saga) und Königssagas vollständig aus der Perspektive dieser
Tierdarstellungen heraus betrachtet. Mit diesem Ansatz wird eine völlig
neue Annäherungsmöglichkeit an die in der Forschung oft als anthropozentrisch
bezeichneten Texte eröffnet, um eben jenes Postulat zu hinterfragen.
Zentrales Anliegen dieses Projektes ist es darzulegen, auf welche
Art und Weise Tiere in den Sagaerzählungen zur Konstituierung von
Bedeutung herangezogen werden und welche Aussagen daraus über die
den Texten zugrundeliegenden Gesellschaftsbilder, insbesondere das
Selbstverständnis des Menschen und dessen Verhältnis zur Tierwelt
getroffen werden können.
Eine Annäherung an diese Thematik wird in zwei Schritten vorgenommen,
da im Rahmen dieser Arbeit davon ausgegangen wird, dass Aussagen über
die sich in literarischen Texten widerspiegelnden anthropologischen
Prämissen eine vorherige Analyse der literarischen Funktion der betreffenden
Elemente bedingen. Daher werden die Tierepisoden zunächst daraufhin
untersucht, wie sie in den einzelnen Untergattungen der Sagaliteratur
in den Gesamttext integriert werden und welche narrative Funktion
ihnen dabei für den Handlungsverlauf zukommt.
Die dabei feststellbaren strukturellen Divergenzen lassen sich mit
einer grundlegend verschiedenartigen Zuordnung des Tieres zur menschlichen
Lebenswelt in den einzelnen Textgruppen in Zusammenhang bringen. Während
in der monarchischen Figurenwelt der Königssagas Tiere primär in metaphorischer
und symbolischer Funktion Eingang finden, weisen die drei anderen
Untergattungen, in denen in verschiedenen Kontexten das Bild einer
wenig stratifizierten isländischen Gesellschaft konstruiert wird,
eine Omnipräsenz des Tieres im Alltag auf, die auf verschiedene Weisen
zur Thematisierung zentraler anthropologischer Aspekte herangezogen
wird. Vor allem die in verschiedenen Kontexten eingenommene Nähe bzw.
Distanz zu Tieren wirkt sich in einem komplexen Spannungsverhältnis,
dem beispielsweise im Falle der Pferdekämpfe oder bei der Ausübung
von Gewalt gegenüber Tieren metonymische Dimension zukommen kann,
auf den gesellschaftlichen Status der Sagafiguren aus.
In einem dritten Hauptteil der Arbeit werden die Ergebnisse der literarisch-anthropologischen
Analysen aufgegriffen und systematisch daraufhin untersucht, in welchen
Bereichen und zu welchem Zweck eine Adaption und Transformation von
einzelnen Tiermotiven, Strukturmodellen und generellen Haltungen zu
Tieren aus Kontinentaleuropa in das christianisierte Skandinavien
stattgefunden hat. Ein kultureller Transfer literarischer Muster ist
hauptsächlich in den Königssagas und den hagiographisch ausgerichteten
Bischofssagas festzustellen. In den anderen beiden Gattungen, den
Isländersagas und der Sturlunga saga, sind dagegen bei der Darstellung
von Tieren nur sehr vereinzelt Einflüsse kontinentaleuropäischer Traditionen
aufzuspüren; die spezifische Bedeutungskonstituierung durch Tierepisoden
in diesem Teil der Sagaliteratur ist als eigenständige Entwicklung
einzuordnen, die in ihrer Einbettung in eine einerseits sich im Prozess
der Stratifikation befindlichen und andererseits aufgrund der klimatisch-geographischen
Gegebenheiten vollständig von der Viehhaltung abhängigen Gesellschaft
interpretiert werden muss.
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