Graduiertenkolleg 516
Kulturtransfer im europäischen Mittelalter

Christian Kober

Die Wissenschaftstheorie des Thomas von Aquin

Christian Kober Das von mir gewählte Dissertationsthema „Die Wissenschaftstheorie des Thomas von Aquin“ soll sich im Stile einer Monographie dieses Themas annehmen. In der bisherigen Forschungsliteratur überwog bis vor kurzem die Beschäftigung mit dem Einfluß, den Aristoteles, der das Grundkonzept einer objektdifferenzierten Wissenschaftstheorie entwickelte, und Boethius, der -allerdings undifferenziert – eine Methodenlehre skizzierte, auf Thomas ausübten. Erst in jüngeren Publikationen werden die verschiedenen weiteren Ströme geschieden, die Thomas in sich vereinigt. Dazu zählt vor allem Dominicus Gundissalinus, der, nicht zuletzt durch seine Tätigkeit als Übersetzer arabischer Quellen dafür besonders geeignet, die Schwäche der Wissenschaftslehre des Boethius aufdeckt und dessen ontolgische Lesart der Aristotelestexte durch eine epistemologische Lesart ersetzt. Dabei beeinflussen ihn die arabischen Kommentatoren des Aristoteles in erheblichem Maße. Thomas von Aquin kommentiert die kleine Schrift des Boethius, den ersten theologischen Traktat über die Trinität, sehr gründlich und ausführlich und liefert am Ende eine vorübergehende Lösung der Einteilung der Objektbereiche der theoretischen Wissenschaften (Physik, Mathematik, Metaphysik).

Alain de Libera betont die Tatsache, daß durch die Lektüre und Rezeption arabischer Texte von seiten der lateinischen Christenheit auch die verschiedenen Spannungen unter den arabischen Autoren bezüglich der Rolle der Philosophie sowie den Fragen nach dem Objekt der Metaphysik und der Begründung der Theologie als Wissenschaft mitgetragen wurden. Von weit reichender Wirkung waren auch die Auseinandersetzungen um eine Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen. Alle Denker aus dem christlichen, muslimischen und jüdischen Bereich fanden dabei zunächst die normativen Texte einer sich selbst offenbarenden personalen Gottheit vor, deren Aussagen prima facie dem menschlichen Wissen entgegengesetzt waren. Erst durch die vernunftgeleitete Auslegung dieser heiligen Texte, die damals wie heute nicht selbstverständlich erlaubt war, sondern erst begründet werden mußte, ergaben sich Schnittmengen von Wißbarem und zu Glaubendem. Dabei lösen Averroes und Moses Maimonides beinahe den gesamten Sinngehalt der heiligen Schriften in den Bereich des vom Menschen Wißbaren auf, was jedoch nur wenigen kognitiv und charakterlich Hervorragenden zugänglich ist. Thomas von Aquin dagegen unterscheidet präszise zwischen Natur und Übernatur, zwischen Wissen und Glauben und entzieht somit die Kernmysterien der christlichen Religion dem menschlichen Wissensbereich.

Der Kulturtransfer liefert dabei ein hervorragendes methodologisches Instrumentarium, um eine Fragestellung zu entwickeln, in der das Denken der arabischen und jüdischen Denker des Mittelalters nicht nur als unvollkommener Zuträger für den großen Vervollkommner Thomas erscheint, sondern sie als Denker auszuweisen, denen es, wie allen rationalen Denkern, um die Wahrheit geht. Thomas selbst hat sich stets auf der Ebene der Vernunft mit Andersgläubigen auseinandergesetzt und weist keinen von ihnen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit zurück, sondern er versucht zu zeigen, daß ihre Schlüsse falsch oder nicht notwendig sind. Von dieser Art der Auseinandersetzung kann auch das hochaufgeklärte 21. Jahrhundert vom 'finsteren' Mittelalter lernen.

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