Astrid Bußmann
verkêrte brieve – Erzählungen von Brieffälschungen in der
europäischen Literatur des Mittelalters

Eine Frau schreibt ihrem Mann einen Brief, in dem sie ihm die Geburt ihres gemeinsamen Sohnes
mitteilt. Doch der intriganten Schwiegermutter gelingt es, den Brief
zu
verkêren: Die Frau sei ihrem Mann untreu geworden,
statt einen Sohn habe sie einen Wolf geboren. Der Mann glaubt der
Fälschung zwar, befiehlt in seinem Antwortbrief aber die Schonung
seiner Frau. Also
verkêrt seine Mutter auch diesen Brief,
verkêrt ihn in ein Todesurteil. – Mit diesen wenigen
Strichen lässt sich eine Episode des „nachklassischen“
Mai und Beaflor-Romans (um 1270/1280) skizzieren, die nach
Classen „in der Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters
recht ungewöhnlich wirkt und wahrscheinlich sogar singulären Charakter“
hat, die Brieffälschungs-Episode. Es ist eine Episode, die die Fragilität
der Zeichen mit der Fragilität der Beziehung parallelisiert, eine
dramatische Episode um Leben und Tod.
Wie die Briefintrige des
Mai und Beaflor-Romans somit
illustriert, reduziert sich im Mittelalter die Störanfälligkeit brieflicher
Kommunikation nicht auf eine Alltagserfahrung in der realen Welt,
sie wird auch zur Erfahrung in der fiktiven Welt. Dabei sind solche
Erzählungen von Brieffälschungen weder in der deutschen noch in der
europäischen Literatur des Mittelalters so singulär, wie Classen suggeriert.
Der Artus-Neffe Mordred etwa oder der Zauberer Neptanabus, der Alexanders
Mutter Olympiades mit einem fingierten Jupiter-Brief verführt, sind
prominente – fiktive – Fälscherfiguren. Gerade als konstitutive
Handlungseinheit profiliert sich die Brieffälschungsintrige zudem
im europaweit tradierten
Mädchen ohne Hände-Stoff, dem
neben
Mai und Beaflor auch so erzählerisch ausgefeilte Adaptationen
angehören wie Philippes de Rémi
Histoire de la Manequine
(vor 1240). Insofern ist Classens Singularitätsvermutung zwar voreilig,
seine prinzipielle Reaktion – trotz der behaupteten Singularität
verzichtet er auf Interpretation – hingegen paradigmatisch für das
bisherige Desinteresse der Forschung. So negiert etwa Wand-Wittkowski
in ihrer Untersuchung zu mittelhochdeutschen Briefeinlagen ein literarisches
Bewusstsein für die Störanfälligkeit brieflicher Kommunikation,
wodurch sie implizit sowohl die Existenz als auch die Relevanz von
Brieffälschungshandlungen bestreitet. Schendas bereits 1979
geäußerte Schlussfolgerung, „der gesamte Komplex der fatalen und/oder
gefälschten Botschaften bedürfe noch vertiefender Studien“,
trifft daher noch heute zu.
Meine Dissertation versteht sich als Versuch, diesen defizitären Forschungsstand
zum literarischen Muster „Brieffälschung“ auf Basis des
Kulturtransfer-Modells zu beheben, wobei ein besonderer Augenmerk
auf den Transfer dieses literarischen Musters und damit auf die Transformationen
gerichtet werden soll, denen Brieffälschungshandlungen – wie alle
literarischen Muster – im Transferprozess unterliegen. Gerade im
Kontext des Kulturtransfer-Modells beruht das Faszinosum des Fälschungsmusters
dabei darauf, nicht nur selber Transferprozessen unterworfen zu sein,
sondern von – freilich primär deformierenden – Transferprozessen
zu erzählen. Denn damit der Fälschungsakt überhaupt möglich ist, muss
auch die in der Briefkommunikation immer zu überwindende – in der
Narration aber gemeinhin negierte – räumlich-zeitliche Distanz
zwischen den Kommunikationspartnern dargestellt werden. So ist das
Erzählen von Fälschung mehr als nur ein Erzählen von Deformation,
es ist, indem es von Deformation erzählt, auch ein Erzählen von Transfer
und Transformation.
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„‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn‘“. Variationen des Liebesgeständnisses in Heinrichs von Veldeke ‚Eneasroman‘. In: Mireille Schnyder und Christian Kiening (Hrsgg.): Schrift und Liebe in der Literatur des Mittelalters.
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