Graduiertenkolleg 516
Kulturtransfer im europäischen Mittelalter

Astrid Bußmann

verkêrte brieve – Erzählungen von Brieffälschungen in der europäischen Literatur des Mittelalters

Astrid Bußmann Eine Frau schreibt ihrem Mann einen Brief, in dem sie ihm die Geburt ihres gemeinsamen Sohnes mitteilt. Doch der intriganten Schwiegermutter gelingt es, den Brief zu verkêren: Die Frau sei ihrem Mann untreu geworden, statt einen Sohn habe sie einen Wolf geboren. Der Mann glaubt der Fälschung zwar, befiehlt in seinem Antwortbrief aber die Schonung seiner Frau. Also verkêrt seine Mutter auch diesen Brief, verkêrt ihn in ein Todesurteil. – Mit diesen wenigen Strichen lässt sich eine Episode des „nachklassischen“ Mai und Beaflor-Romans (um 1270/1280) skizzieren, die nach Classen „in der Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters recht ungewöhnlich wirkt und wahrscheinlich sogar singulären Charakter“ hat, die Brieffälschungs-Episode. Es ist eine Episode, die die Fragilität der Zeichen mit der Fragilität der Beziehung parallelisiert, eine dramatische Episode um Leben und Tod.

Wie die Briefintrige des Mai und Beaflor-Romans somit illustriert, reduziert sich im Mittelalter die Störanfälligkeit brieflicher Kommunikation nicht auf eine Alltagserfahrung in der realen Welt, sie wird auch zur Erfahrung in der fiktiven Welt. Dabei sind solche Erzählungen von Brieffälschungen weder in der deutschen noch in der europäischen Literatur des Mittelalters so singulär, wie Classen suggeriert. Der Artus-Neffe Mordred etwa oder der Zauberer Neptanabus, der Alexanders Mutter Olympiades mit einem fingierten Jupiter-Brief verführt, sind prominente – fiktive – Fälscherfiguren. Gerade als konstitutive Handlungseinheit profiliert sich die Brieffälschungsintrige zudem im europaweit tradierten Mädchen ohne Hände-Stoff, dem neben Mai und Beaflor auch so erzählerisch ausgefeilte Adaptationen angehören wie Philippes de Rémi Histoire de la Manequine (vor 1240). Insofern ist Classens Singularitätsvermutung zwar voreilig, seine prinzipielle Reaktion – trotz der behaupteten Singularität verzichtet er auf Interpretation – hingegen paradigmatisch für das bisherige Desinteresse der Forschung. So negiert etwa Wand-Wittkowski in ihrer Untersuchung zu mittelhochdeutschen Briefeinlagen ein literarisches Bewusstsein für die Störanfälligkeit brieflicher Kommunikation, wodurch sie implizit sowohl die Existenz als auch die Relevanz von Brieffälschungshandlungen bestreitet. Schendas bereits 1979 geäußerte Schlussfolgerung, „der gesamte Komplex der fatalen und/oder gefälschten Botschaften bedürfe noch vertiefender Studien“, trifft daher noch heute zu.

Meine Dissertation versteht sich als Versuch, diesen defizitären Forschungsstand zum literarischen Muster „Brieffälschung“ auf Basis des Kulturtransfer-Modells zu beheben, wobei ein besonderer Augenmerk auf den Transfer dieses literarischen Musters und damit auf die Transformationen gerichtet werden soll, denen Brieffälschungshandlungen – wie alle literarischen Muster – im Transferprozess unterliegen. Gerade im Kontext des Kulturtransfer-Modells beruht das Faszinosum des Fälschungsmusters dabei darauf, nicht nur selber Transferprozessen unterworfen zu sein, sondern von – freilich primär deformierenden – Transferprozessen zu erzählen. Denn damit der Fälschungsakt überhaupt möglich ist, muss auch die in der Briefkommunikation immer zu überwindende – in der Narration aber gemeinhin negierte – räumlich-zeitliche Distanz zwischen den Kommunikationspartnern dargestellt werden. So ist das Erzählen von Fälschung mehr als nur ein Erzählen von Deformation, es ist, indem es von Deformation erzählt, auch ein Erzählen von Transfer und Transformation.

Aktuelle Publikationen / Vorträge
„‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn‘“. Variationen des Liebesgeständnisses in Heinrichs von Veldeke ‚Eneasroman‘. In: Mireille Schnyder und Christian Kiening (Hrsgg.): Schrift und Liebe in der Literatur des Mittelalters.

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