Graduiertenkolleg 516
Kulturtransfer im europäischen Mittelalter

Anke Bödeker (Stipendiatin)

Der Kulturtransfer der Neumenschrift

Anke Bödeker Als die Cantilena romana, der liturgische Gesang, der römischen Kirche, im 8./9. Jahrhundert über die Alpen ins Frankenreich eingeführt wurde, geschah dies noch nicht mit Hilfe von musikalischer Notation. Der Transfer erfolgte vielmehr über Sänger, die den Gesang mündlich vermittelten. Dennoch ist die musikalische Notation in Form von Neumen aufs Engste mit dem Kulturtransfer der liturgischen Gesänge verbunden: sie diente als Medium zur Sicherung des Transfererfolgs. Der Rücktransfer des Gesangs nach Italien wurde aus musikwissenschaftlicher Perspektive bislang vor allem am Beispiel des beneventanischen Bereichs untersucht. Norditalien hat keine vergleichbare Beachtung gefunden, obwohl gerade in Norditalien verschiedene transalpine Neumenschriften adaptiert wurden. Handschriften etwa aus Monza, Bobbio, Asti, Como und Pavia sind allerdings prädestiniert dafür, den Transfer und die Aneignungsprozeß der Neumenschriften an Orten zu untersuchen, die in ihren Skriptorien Handschriften mit musikalischer Notation herstellten und dabei wechselnden politischen oder kirchenpolitischen Beziehungen Rechnung trugen, indem sie in verschiedenen nordalpinen Regionen beheimatete Neumenschriften auf das Pergament setzten.

Ziel des Projekts ist es, den Transfer von Neumen und der Kulturtechnik der Verschriftlichung von Musik nach Norditalien erstmals umfassend darzustellen. Hierzu wird der historische Prozeß der Verschriftlichung in Norditalien diachron, regionale Differenzierungen wie sie zwischen Monza und Bobbio in Erscheinung treten, synchron untersucht. Darüber hinaus wird an einzelnen Handschriften, die transferiert wurden, das Zusammenspiel der Anlage des Buchtyps – die im Falle des Missale eine italienische Entwicklung darstellt – mit den Neumen untersucht. Da mehrere dieser Handschriften (vgl. etwa D-Mbs Clm 3005, 17022 und 23281) Neumentypen aus dem ostfränkischen Raum überliefern, wird die Akkulturation gerade dieser Neumen einen Schwerpunkt der Arbeit bilden.

Die Forschung geht davon aus, daß Neumen nördlich der Alpen ihren Ursprung haben. Um allerdings zu entscheiden, aus welchen Regionen nördlich der Alpen die Neumen in den Süden transferiert wurden, ist eine systematische und auf breiter Quellenbasis angelegte Neumenklassifikation unabdingbare Voraussetzung. Über einen Vergleich der südlich und der nördlich der Alpen geschriebenen Neumen werden Beziehungen und Adaptationsschichten der Neumen ermittelt und Transferwege rekonstruiert. Daran schließen sich dann Überlegungen hinsichtlich der von der Forschung als autochton aufgefaßten Neumentypen Italiens an. In den Blick genommen werden auch sogenannte Kontaktneumen, die auf der Grenze regionaler Verbreitungen von Neumenfamilien zu beobachten sind; sie belegen eine Angleichung oder Übernahme einzelner Neumen oder Neumengraphien aus dem fremden Zeichenrepertoire der angrenzenden Gegend. Der Frage, ob Aufzeichnungen bestimmter Gesänge (Tropen und Sequenzen) für die Vermittlung von Notation verantwortlich gemacht werden können oder sie zumindest befördert haben, wird ebenfalls nachzugehen sein.

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