Graduiertenkolleg 516
Kulturtransfer im europäischen Mittelalter

Arbeitsbereich G

Arabisierung und Entarabisierung der mittelalterlichen Medizin

G. Allgemeines

Während im arabisch-islamischen Bereich seit dem 9. Jahrhundert die Aneignung der griechisch-römischen Medizin ihren Höhepunkt erreicht hatte und sich in der Folgezeit auf dieser Basis die arabische Medizin mit reicher Literatur, Schulen und Krankenhäusern entwickelte, kannte Westeuropa in dieser Zeit nur sehr bescheidene und in vielerlei Hinsicht verfälschte Reste der antiken Medizin, daneben kursierten Einzelstücke medizinischer Gebrauchsliteratur. Die frühesten Zeugnisse für eine systematische Beschäftigung mit der Medizin im mittelalterlichen Westeuropa lassen sich für Salerno im 10. Jahrhundert belegen. Die hier entstandenen Texte dienten der ärztlichen Praxis, es waren überwiegend Kompilationen aus galenischen oder pseudogalenischen Schriften. Seine Blütezeit erreichte Salerno im späten 11. und frühen 12. Jahrhundert; Voraussetzung hierfür war die Übersetzertätigkeit des Constantinus Africanus (um 1020-1087), der seit etwa 1075 bis zu seinem Tode medizinische Texte aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzte und damit zum ersten großen Interpreten der Medizin des Islam für das Abendland wurde. Eine vergleichbare Rolle spielte dann etwa hundert Jahre später Gerhard von Cremona in der Übersetzerschule von Toledo. Die von Constantinus und Gerhard übersetzten Texte wurden zur Grundlage des Unterrichts in der Medizin an den europäischen Universitäten des Mittelalters. Diese rasche Übernahme in den Lehrkanon hatte nicht nur zur Folge, daß die Medizin für etliche Jahrhunderte primär zur Buchwissenschaft wurde, sondern sie verhinderte auch eine größere Breitenwirkung der lateinischen Übersetzungen, die seit dem 12. Jahrhundert in verschiedenen Zentren Italiens direkt von den griechischen Originalen vorgenommen wurden. Zusammen mit den graeco-arabischen Texten gelangten seit dem 11./12. Jahrhundert auch medizinische Bücher aus dem Orient nach Italien, die als Originalprodukte arabischer Autoren zu gelten haben. Auch sie wurden zu wesentlichen Bestandteilen der westlichen Medizin.

Die mittelalterliche Medizin war über mehrere Jahrhunderte wesentlich durch den Kulturtransfer von persischem und arabischem Gut in den lateinischen Westen bestimmt worden. Die Ost-West-Richtung gibt dabei eher die kulturelle Himmelsrichtung an als die geographische, denn innerhalb Europas wanderte das Übernommene im wesentlichen von Süd nach Nord. Nachdem die Orientalisierung die Medizin des Mittelalters umfassend geprägt hatte, wurde der Prozeß im Zuge des Humanismus, das heißt durch Rückgriff auf die originalen griechischen Quellen, wieder rückgängig gemacht. Für viele Vertreter der Medizin, die bis dahin auf Quellen angewiesen waren, die auf ihrem Umweg über das Syrische oder Arabische vielfache Veränderungen und Entstellungen erfahren hatten, bedeutete die Konfrontation mit den echten Texten von Hippokrates und Galen eine Art von Offenbarung. Die griechische Herkunft galt diesem Zeitalter per se als Qualitätsausweis, unabhängig von Inhalten oder praktischer Anwendbarkeit. Mehrere Generationen von humanistisch geschulten Ärzten widmeten sich deshalb jetzt der Arbeit an den neu entdeckten Texten, das heißt der Übersetzung ins Lateinische, der Kommentierung und der Edition. Parallel ging damit eine überaus heftige Kritik an den Arabern einher. Mit der Reinigung der Texte von arabischen Spuren wurde so der im 11./12. Jahrhundert erfolgte Kulturtransfer wieder rückgängig gemacht.

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