Graduiertenkolleg 516
Kulturtransfer im europäischen Mittelalter

Arbeitsbereich F

"Religiöse Literatur des Islam im lateinischen Gewand und ihre Wirkung"

F. Allgemeines

Wenn von "Kulturtransfer im europäischen Mittelalter" die Rede ist, muß ganz wesentlich vom Orient die Rede sein, d.h. der islamisch dominierten, sich hauptsächlich in arabischer Sprache artikulierenden Welt, die sich von Mittelasien, der Heimat von Avicenna (Ibn Sînâ, 980-1037) bis nach Spanien, der Heimat von Averroes (Ibn Ruschd, 1126-98), erstreckte. Die für die europäische Mediävistik bislang relevanten Forschungsthemen betrafen in erster Linie den Transfer antiker Philosophie, Medizin und anderer Naturwissenschaften über eine arabische (eventuell auch davorliegende syrische oder hebräische) Zwischenstation ins Abendland, ihre Überlieferer und Überlieferungswege, ihre Übersetzer und Übersetzerschulen, die Art und Qualität der Übersetzungen, sowie die Bedeutung dieser Übersetzungen für die Entwicklung der entsprechenden Disziplinen im mittelalterlichen Europa. Die Fülle der vorhandenen Literatur zu den angedeuteten Themen darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die äußerst komplexen Transfervorgänge noch längst nicht von allen Seiten ausgeleuchtet sind, daß vor allem so konkrete Fragestellungen, wie sie im Rahmen dieses Antrages von philosophischer (siehe Arbeitsbereich 2) und medizinhistorischer Seite formuliert sind (siehe Arbeitsbereich 4), bislang nur selten genauer behandelt wurden. Sie in philologischer Hinsicht umfassend zu unterstützen, ist ein wesentlicher Aspekt der Partizipation der orientalischen Philologie am Graduiertenkolleg.

"Kulturtransfer" zwischen orientalischer und abendländischer Welt beschränkte sich nun jedoch keineswegs nur auf die angesprochenen Bereiche; denn nicht wenige europäische Gelehrte des 12. und 13. Jh.s (z.B. Robert v. Ketton, Hermann v. Carinthia, Marcus v. Toledo) haben neben medizinischen, mathematischen oder philosophischen Texten auch religiöse Texte übersetzt, darunter so bedeutsame wie den Koran oder wichtige Texte des almohadischen Ideologen Ibn Tûmart (gest. ca. 1130). Das Ziel dieser Übersetzungen zentraler islamischer Texte war jedoch anders definiert als das der (aus islamischer Sicht) eher peripheren säkularen Texte. Hier ging es nämlich darum, den Kern der gegnerischen religiösen Lehre zunächst kennenzulernen, um ihn dann, in einem zweiten Schritt, im Rahmen der Kontroverstheologie widerlegen zu können. "Transfer" war hier im Grunde primär negativ bestimmt, konnte aber gleichwohl von positivem Einfluß sein, wie sich an einigen Rezeptionsvorgängen zeigen läßt.

In den Bereich der Transferforschung gehört auch die Frage, inwieweit zentrale kontroverstheologische Themen des Islam, die durch die zu untersuchende Übersetzungsliteratur im Abendland bekannt wurden, Fragestellungen der scholastischen Theologie beeinflußt haben, z.B. das Thema der Prophetologie oder das der Beweiskraft der Heiligen Schrift der Christen gegenüber islamischen Einwänden auf der Basis der sogenannten Verfälschungstheorie (arabisch tahrîf).

zurück