Graduiertenkolleg 516
Kulturtransfer im europäischen Mittelalter

Arbeitsbereich E

Regionale Differenzierung und interregionaler Transfer in der Musikkultur des europäischen Mittelalters

E. Allgemeines

Die europäische Musikkultur ist durch eine Transferleistung unerhörten Ausmaßes begründet worden: Die Einführung des römischen liturgischen Gesangs (der 'cantilena romana', des sogenannten 'Gregorianischen Gesangs') in das Frankenreich während der Karolingerzeit und dessen normative Verbreitung über ganz Europa mit der Folge neuer Zentrierungen und Orientierungen. Seitdem ist das musikalische 'cultural system' Europas geprägt durch die Idee und das Ideal einer überregionalen Einheit, zugleich aber auch durch die Erfahrung und das Bewußtsein regionaler Unterschiede.

Dabei ist der interregionale Kulturtransfer nicht lediglich als Ausgleich regionaler Differenzen zu verstehen, nicht nur als eine verteilende 'Ausgleichsbewegung' bei einem bestehenden 'Kulturgefälle' zwischen 'überlegenen' (oder als überlegen betrachteten) und 'unterlegenen' (oder sich als unterlegen wahrnehmenden) Regionalkulturen. Denn der Transfer kann auch die Ursache neuer 'Kulturgefälle' und dadurch Auslöser neuer Transferbewegungen sein. So kann es zur Umkehrung des Verhältnisses zwischen gebender und nehmender Region kommen sowie zur Umkehrung der Richtungen und zur Verlagerung der Routen des Transfers, etwa wenn dieser in seiner Zielregion Innovationen (als produktive Rezeption des Transferierten) zur Folge hat, die auch für die Ausgangsregion attraktiv sind. Beispiele dafür sind die Entstehung neuer Formen liturgischer Musik und Poesie im Frankenreich aus einer produktiven Auseinandersetzung mit dem Gregorianischen Gesang, den man als römisches Transfergut wahrgenommen hat, aber auch die systematische Verschriftlichung des Gregorianischen Gesangs im Frankenreich; diese ist interpretierbar als Maßnahme zur (pragmatisch motivierten) Stabilisierung und Kontrolle eines erzielten Transferergebnisses, aber auch als Maßnahme zur (ideologisch motivierten) visuellen Manifestation eines beanspruchten, offenbar prestigeträchtigen, Transfererfolgs. Beide Innovationen wurden alsbald Gegenstand eines Transfers in umgekehrter Richtung.

Die mittelalterlichen Bemühungen um den interregionalen Transfer von Musik beschränkten sich indessen nicht auf deren räumliche Bewegung zwischen den Regionen, sondern führten vielfach zu einer Transformation der Musik. So wurde Musik in den - transferbedingten oder transferbegleitenden - Prozessen der Rationalisierung, Vermittlung und Aneignung ständig umgedeutet, auch mißverstanden, und verändert.

Untersucht wurde innerhalb dieses primär auf musikgeschichtliche, zugleich aber auf literaturgeschichtliche und kirchengeschichtliche Befunde bezogenen Arbeitsbereiches der Transfer von Musikbeständen, Musikidiomen, Musikpraktiken und Musikauffassungen sowie von Medien und Modi der Musiktradierung zwischen den Gegenden Europas, in denen Latein die Sprache des Kultus und seiner Gesänge sowie des musikbezogenen Schrifttums war, und in denen Rom als die verbindliche Kultinstanz und Roms liturgische Musikpraxis als ideales Vorbild galten. Dabei waren nicht nur konkrete Transfervorgänge ihrem räumlichen und zeitlichen Verlauf nach zu rekonstruieren oder konkrete Überlieferungsbefunde mit Hilfe von Transferszenarien zu erklären, sondern auch die spezifischen Voraussetzungen, Motive, Resultate und Konsequenzen des jeweils untersuchten Transfergeschehens.

Wichtig war in diesem Zusammenhang auch die Frage nach den pragmatischen wie ideologischen Gründen und Begründungen des Transfers und den materiell-technischen wie methodischen Grundlagen der Transferierbarkeit von Musik oder das Ausbleiben von Transfer.

Der Arbeitsbereich "Regionale Differenzierung und interregionaler Transfer in der Musikkultur des europäischen Mittelalters" konzentriert sich innerhalb des geplanten Kollegs auf den 'innerokzidentalen' Kulturtransfer und thematisiert dabei besonders nachdrücklich die Mechanismen des Transfervorgangs als solchen. Dies wird dadurch gerechtfertigt, daß der europäische Binnentransfer in überschaubaren Zeitspannen verlief, und dadurch, daß die Quellenlage für die Ausgangsregion und die Zielregion eines Transfervorganges meist vergleichbar beschaffen ist.

Die Frage nach einem die Grenzen des Okzidents überschreitenden Transfergeschehen oder nach den Gründen seines Ausbleibens, Transfer etwa aus dem oder nach dem byzantinischen, arabisch-muslimischen oder jüdischen Bereich, stellt sich hinsichtlich der mittelalterlichen Musik vorab als Frage nach dem Vorkommen, der Erwartbarkeit und Möglichkeit eines solchen Transfers von Musik zwischen nur bedingt 'kompatiblen' Systemen musikalischer Kultur und als Frage nach der Nachweisbarkeit eines solchen Transfers und seiner Thematisierbarkeit unter Aspekten von Transferforschung. (Als lediglich bedingt 'kompatibel' sind okzidentale und nicht-okzidentale Musikkulturen schon deshalb zu betrachten, weil kein gemeinsamer Begriff von Musik vorauszusetzen ist; auch sind die Bedingungen eines Transfers aus genuin mündlichen Musikkulturen, in eine Musikkultur, die sich ihrer liturgischen Musikpraxis in zunehmendem Maße in schriftlicher Form versichert, prinzipiell ungeklärt).

Diese Fragen sollen und dürfen wenigstens als Fragen nicht völlig ausgeklammert bleiben; auch soll und darf nicht übersehen werden, daß die Musik der arabisch-muslimischen und der jüdischen Kultur im Mittelalter nicht nur als Musik außer-okzidentaler Kulturregionen, sondern auch als Musik arabisch-muslimischer und jüdischer Europäer gegenwärtig war, und daher mit Einflüssen und Austausch nicht nur in Gestalt eines räumlichen, sondern auch eines sozialen Transfers zu rechnen ist. Daß diese Problematik im Lehrprogramm des Kollegs präsent gehalten wird, garantiert der (bereits etablierte) Kontakt mit einem auswärtigen Experten (Max Haas).

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