Graduiertenkolleg 516
Kulturtransfer im europäischen Mittelalter

Arbeitsbereich B

Der Transfer anthropologischer Theorien zwischen Orient und Okzident

B. Allgemeines

Das Bild, das die Philosophiegeschichtsschreibung bisher von der mittelalterlichen Philosophie gezeichnet hat, hat sich in den letzten Jahren gewandelt: Weg von der Darstellung als eines wohlgeordneten und sich mehr oder minder linear entwickelnden Phänomens hin zu einer Beschreibung als eines komplexen und vielschichtigen Gebildes unterschiedlichster geistiger Strukturen, die sich in mannigfaltiger Weise überschneiden; dabei wird der Anteil des lateinischen Christentums als ein Element unter andern gewertet. Étienne Gilson hatte die mittelalterliche Philosophie noch als im großen und ganzen einheitliches, in seinem Wesen christliches Phänomen verstanden. Demgegenüber wird in der aktuellen Darstellung der mittelalterlichen Philosophie von Alain De Libéra deutlich, daß die philosophischen Bemühungen dieser Zeit nicht unter einen einzigen Begriff zu bringen sind - entsprechend nimmt die Entwicklung im Westen nurmehr knapp die Hälfte des Platzes ein. Es scheint geboten, den Blick zu schärfen für ein Nach- und Nebeneinander sowie die Vermischung vielfältiger philosophischer Strömungen und Traditionen, die keinesfalls allein dem Kulturraum des christlichen Westens entstammen.

Die verschiedenen Traditionsströme und die diversen Versuche ihrer Verbindung treffen in den Übersetzungen und Kommentierungen der Werke des Aristoteles zu Ende des zwölften und im Verlauf des dreizehnten Jahrhunderts wie in einem Brennpunkt aufeinander; deren intellektuelle Brisanz läßt sich an der berüchtigten Verurteilung verschiedener theologischer und philosophischer Thesen durch den Pariser Bischof Étienne Tempier im Jahr 1277 ablesen. Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang Schriften über die Seele, ob als unabhängige Werke oder als Kommentare zu Aristoteles, die entstehen, seit - in der Vermittlung durch Übersetzerpersönlichkeiten wie Gerhard von Cremona, Roberte Grosseteste oder Michael Scotus - über das Organon hinausgehendes und sich darauf berufendes arabisches Lehrgut ins christliche Abendland vordringt.

In diesen Traktaten werden in vielfältigster Weise die Ansichten und Argumente von Philosophen der klassischen Antike, der Spätantike, der Patristik und frühen christlichen Schulphilosophie sowie der jüdischen und vor allem islamischen Philosophie analysiert und synthetisiert; die Bandbreite der intellektuellen Leistungen reicht dabei von der einfachen Paraphrase älterer Texte bis zum völlig neuartigen systematischen Aufriß des Themas.

Das Transfergeschehen im Bereich philosophischer Theorien und dabei insbesondere in der Anthropologie ist vielschichtig und durch wechselseitige Beeinflussungen und Überlagerungen unterschiedlichster Traditionsströme gekennzeichnet; neu entstehende philosophische Synthesen stellen sich dar als Gewebe diverser, von verschiedenen Seiten übernommener Lehrstücke, wobei Provenienz und Grad der Umgestaltung und Überformung nur selten ersichtlich sind.

Die geistesgeschichtliche Bedeutung der Entwicklung und Umformung des wissenschaftlichen Bildes vom Menschen geht über den Rahmen 'rein' philosophischen Interesses weit hinaus: Neben den naheliegenden Verbindungen zur medizinischen Theorie etwa gewinnt im lateinischen Mittelalter die Lehre von den Affekten im Rahmen der theoretischen Beschäftigung mit Musik wieder an Bedeutung. Im Bereich der Theologie und der religiösen Praxis beeinflussen anthropologische Theorien das Verständnis von mystischem Erleben und prophetischem Geschehen in nicht unerheblichem Maße. Nicht zuletzt werden in der Wissenschaft neue Blickwinkel auf den Menschen alsbald umgesetzt in populäre Formen der Darstellung in lateinischer wie volkssprachiger Erzählliteratur. So ist etwas die im ersten Antragszeitraum des Kollegs entstehende Dissertation von Juliane Rieche mit der ‚Popularisierung‘ anthropologischen/medizinischen Wissens befaßt.

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