Graduiertenkolleg 516
Kulturtransfer im europäischen Mittelalter

Forschungsprogramm des Kollegs

Grundlagen

Die Entfaltungsperiode der europäischen Nationalkulturen ist nicht der Erstzustand, in dem Transfer beobachtet werden kann. Die vorausgehenden, ‘vornationalen’ Perioden des Mittelalters sind für das Studium von Kulturtransfer zumindest ebenso reichhaltig und ebenso wichtig. Den mittelalterlichen Vermittlungs- und Austauschprozessen (im Zeitrahmen ca. des 9. bis 16./17. Jahrhunderts) gilt das Erkenntninteresse des Graduiertenkollegs. Anders als in der Neuzeit vollziehen sich Transferprozesse zu jener Zeit nicht vornehmlich in nationalen Polaritäten. Ihnen ist - bei aller Heterogenität der einzelnen Komponenten - von vornherein eine 'europäische Dimension' eigen. Der Kulturtransfer ist ein Schlüssel zum Verständnis dessen, was die mittelalterliche Kultur als 'Gesamtheit' konstituiert. So sieht Rémi Brague die ‚europäische Identität‘ wesentlich in ihrem ‚Römertum‘ begründet, das er näherhin bestimmt als eine ‚Haltung der Aneignung, der Überlieferung und der Weitergabe.‘ Dem nachzugehen lohnt umso mehr, als sich die Hauptverbindungen der europäischen Kultur- und Verkehrsräume in der Selbstverständlichkeit, mit der wir sie zu denken gewohnt sind, erst im Mittelalter etabliert haben; sowohl die Renovierung von Teilstrukturen des antiken Imperium Romanum in Süd-, Mittel- und Westeuropa als auch die Erweiterung auf Nord- und Osteuropa. Der geographische Horizont der Länder, die jetzt Mitglied in der 'Europäischen Union’ sind oder werden wollen, hat seine Prägung erst und erstmals im Mittelalter erhalten. In mancher Hinsicht ist das Mittelalter, pointiert gesagt, die Antike der Europäischen Union.

Im europäischen Mittelalter befinden sich die unterschiedenen Kulturregionen in einem gemeinsamen vornationalen Aggregatzustand, der die wesentlichen Formen der Bildung, der Religionsausübung, der Kunst und des Austausches von Wissen und Können nachhaltig prägt. Auch wo frühe Ansätze von regionalem oder nationalem Identitätsbewußtsein entstehen, werden diese transnational eingebunden und artikuliert, etwa in der Struktur der Bettelorden und der Universitäten. Es gibt nur einige wenige verbindliche Grundlagen für eine gemeinsame Weltdeutung: Bibel, Patristik, klassische lateinische Antike. Aber selbst sie können sich, indem sie als Gemeingut eingeführt werden, in die jeweiligen Gebrauchsräume fügen und dabei verändern. Leitdeutungen bilden sich darüberhinaus jeweils sprachgebunden und schriftgestützt. So entstehen spezifische Sprachkonventionen: im Latein der Bibel und der Gelehrten, in gemeinsamen Formeln der Bild- und Tonsprache. Wie neue Ideen, Deutungen und Weltentwürfe einerseits an solche Konventionen anknüpfen, wie sie anderseits, weil sie neu sind, die Konventionen des Aussagens, Darstellens und Zeigens auch verlassen, überschreiten und neue Formen schaffen, die möglicherweise zunächst abgelehnt werden, aber selbst ausstrahlen und vorbildlich werden können, ist Gegenstand des Kollegs.

Die bisher erzielten Forschungsergebnisse der am Graduiertenkolleg beteiligten Disziplinen bestätigen die Vermutung, daß sich solche Prozesse der Etablierung neuer Muster nur ausnahmsweise linear vollziehen - selbst ein Mißverständnis oder eine bewußt errichtete Verständnisschranke können innovativ wirken. Die Effekte einer unzulänglichen Verständigung müssen im Zusammenhang von Mündlichkeit und Schriftlichkeit diskutiert werden, denn in der Dichtung und in der Musik, in den verschiedenen Künsten und Wissenschaften konkurriert der schriftgebundene Transfer mit nichtschriftlichen Methoden und Systemen. Wie der (unter Umständen mehrmalige) Medienwechsel beim Transfer das übertragene Gut verändert, welche Umdeutungen und Funktionswechsel er hervorgerufen oder befördert hat, ist gerade für die Beschreibung ‚produktiver Mißverständnisse‘ mitzubedenken.

'Kulturtransfer im europäischen Mittelalter' zeigt ein Forschungsprogramm an, das sich sowohl von der Rezeptions- als auch von der Einflußforschung unterscheidet. Die Rezeptionsforschung unterstellt die Vorbildlichkeit ihres Gegenstandes für einen aufnehmenden (soziologisch, regional oder historisch gefaßten) Gebrauchsraum; die Einflußforschung geht von einer faßbaren und abgegrenzten kulturellen Identität sowohl des Gebenden als auch des Nehmenden aus. Dagegen betont das Programm 'Kulturtransfer' die Verlaufsformen und Bedingungen von Kulturimporten und -exporten, das heißt den Prozeß des Transfers selbst. Dabei liegt besonderes Gewicht auf den Veränderungen und Verwerfungen, denen das Übertragene jeweils unterliegt. Beispielsweise mußte Musik, um angemessen und nachhaltig transferiert werden zu können, 'rationalisiert', das heißt auf allgemein verbindliche Standards gebracht werden, so daß neben die aufwendige und nicht immer erfolgreiche Praxis persönlich-mündlicher Überlieferung schriftliche Fixierung trat.

Kulturtransfer kann im weitesten Sinne sowohl räumlich (z.B. von Ost nach West) als auch zeitlich (z.B. von der Antike ins Mittelalter) als auch sozial (z.B. von einer Experten- zu einer Laienkultur) verstanden werden. Diese Verständnisweisen sind jedoch nicht völlig gleichrangig. Wenn zeitliche oder soziale Verschiebungen von Kulturtechniken ohne räumlichen Aspekt bleiben, fallen sie unter andere Begriffe (Rezeption, Tradition usw.). Für den Kulturtransfer ist der räumliche Aspekt übergeordnet; soziale und zeitliche Verschiebungen ordnen sich der Bewegung im Raum notwendig zu, denn kein Kulturgut vermag ohne Träger in eine andere Region zu gelangen, und die Bewegung selbst erfordert Zeit.

In diesem Sinne wird ‘Transfer’ in erster Linie räumlich-regional verstanden und untersucht das Kolleg die Verfestigung und Verschiebung oder Umbildung von Kulturräumen vor allem im mittelalterlichen West- und Mitteleuropa untersuchen. Im antiken Imperium Romanum hatte eine von den Römern als Kulturgefälle empfundene Differenz zwischen den cisalpinen und den transalpinen Provinzen bestanden. Zweifellos wirkten neben den natürlichen Grenzen auch ethnische, sprachliche und andere Unterschiede transferhindernd oder transferfördernd.

Die Frage, welche Übertragungen und Umbildungen zu einem als ‘gemeineuropäisch’ zu bezeichnenden Verständnis der Welt und des Menschen geführt haben, ab wann ein solches Verständnis eigentlich angesetzt werden könnte, ob die kulturellen ‘Ausgleichsbewegungen’ nicht überhaupt widersprüchlich geblieben sind und immer wieder neue Ungleichgewichte hervorbrachten, wird im Rahmen des Kollegs verfolgt.

Ein prominenter Problembereich ist der Transfer zwischen Orient und Okzident. Zwar scheint das Verhältnis zum Orient in der okzidentalen Musikkultur kaum eine Rolle gespielt zu haben, doch ist es auf anderen Feldern, besonders der Anthropologie und der Medizin, fundamental. Das ‘Wir’ der als Einheit begriffenen ‘europäischen Christenheit’ wurde, nach der jüngst von Bartlett ausgearbeiteten These, erst und zuerst in der Konfrontation mit einem gemeinsamen Gegner, dem expandierenden Islam, plausibel und notwendig. Ob und wieweit die Makrostruktur des mittelalterlichen Ost-West-Konflikts auf die Kulturtransferprozesse auch der binneneuropäischen Mikrostrukturen eingewirkt hat, ist eine immer wieder zu stellende Frage.

Die Diskussion des Transfer-Themas führte auf den folgenden gemeinsamen Problemkatalog aller Arbeitsbereiche:

1. Träger des Kulturtransfers,
2. Relation von Geber und Nehmer,
3. Anlässe und äußere Bedingungen,
4. Richtungen und Wege,
5. Mittel und Medien,
6. beabsichtigten Zwecke, beabsichtigte Funktionen,
7. erreichte Zwecke, erreichte Funktionen,
8. Position im alten und im neuen Bezugssystem.


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